Darf ich Sie kurz mal stören?

Halbgott in Weiß. Wie sehr wünsche ich mir dieses Klischee endlich untergehen zu sehen. Denn wir sind alle nur Menschen. Auch wenn man dann wirklich fertige Ärztin ist. Nein ehrlich, wer will das schon sein, vor allem in einem Dorf in welchem jeder jeden kennt? Also ich nicht.
Trotzdem hält es sich. Und mit ihm die Vorstellung der Patienten von diesem Halbgott. Im Eid heißt es, immer zum Wohl des Patienten zu handeln. Also „immer“ heißt zu allen Zeiten, oder? Immer da, immer im Dienste seiner Patienten. Eine Frage: Warum werden bei fast allen Dienstleistern Öffnungszeiten ohne Weiteres respektiert nur nicht im Heilberuf
Zugegeben, das ist eine sehr plakative Aussage. Sehr viele nehmen diese Zeiten ernst und stören nur im absoluten Notfall, und auch dann nur, wenn sie es ausdrücklich erlaubt bekommen. Und klar, für die Familie ist man sowieso immer da und wenn man der einzige Arzt in dieser ist, hilft man gerne auch noch am Samstagabend um zehn, damit der Cousin nicht zum Notdienst fahren muss. Aber wo ist die Grenze? Dürfen die Freunde dann auch anrufen? Freunde von Freunden? Der Bruder der Freundin der Cousine?
Für manchen beginnt diese Grenze dort, wo die Praxistür schließt, für andere am Abend um acht Uhr. Es ist individuell und nicht objektiv zu beurteilen. Was gut ist, das darf und muss jeder für sich entscheiden. Nur muss diese Entscheidung auch respektiert werden.
Bis jetzt kann ich nur als Tochter von Ärzten sprechen. Und muss sagen, ich ärgere mich schon manches Mal. Bei 3000 Seelen sprechen sich Familienbeziehungen natürlich auch herum, also ist klar, dass die, die immer in Uniform des Roten Kreuzes auf den Stadtfesten rumläuft, die Tochter von Frau oder Herrn Doktor ist. Kein Problem für mich. Es ist nun mal so. Und irgendwo ist man vielleicht auch Stolz auf seine Eltern. Dass man mich dann aber nur noch auf meine Eltern anspricht, muss nicht sein. „Kannst du deiner Mutter sagen, dass…“ Nein, tut mir leid. Zurzeit sehe ich meine Eltern gefühlt seltener als mancher Patient, also lasst mir bitte die Zeit mit ihnen! Es geht bei uns oft genug um die Arbeit und um Patienten.
Ich möchte auch umweltbewusst leben und kaufe regional ein, wenn es geht. Genau wie meine Eltern. Leider häufig am Samstagmorgen, dem Großkampftag des Einzelhandels. Geht halt nicht anders. Und ich will nicht leugnen, dass es schön ist, immer (auch immer mehr) bekannte Gesichter zu sehen und kurz zu plaudern. Nur hat man nicht immer dazu Zeit oder Lust. Besonders letzteres nicht mehr, wenn es wieder um die Oma der Schwester der Schwägerin des Nachbars geht. Die hat eine Diagnose bekommen. Stimmt die denn jetzt und was heißt das? Privatsprechstunde zwischen Salatköpfen und Tomaten.
Ein ganz anderes Thema, welches jedem Allgemeinmediziner oder Mediziner allgemein bekannt sein wird, sind die Gesprächsthemen bei Familienfeiern. Ganz ehrlich, ich möchte mich hier gerade einfach an der Familie erfreuen und jetzt nicht die Diagnose der Großtante Deiner Frau diskutieren. Und leider beschränkt es sich nicht auf Feiern, Geburtstage, Abendessen mit Freunden… Privatsphäre? Fehlanzeige.
Aber wo fängt die eigene Privatsphäre an? Und ist es nicht eine Frage des Respekts, diese zu akzeptieren. Warum fällt uns das so schwer, wenn es um unsere Gesundheit geht?
Wenn ich ehrlich bin habe ich die Beobachtung gemacht, dass nicht selten es nicht die eigene Gesundheit ist, die uns dazu treibt Grenzen zu überschreiten. Frau Müller weiß natürlich, wenn die Frau Doktor mit Mann und Tochter unterwegs ist, dass es außerhalb ihrer Arbeitszeiten ist. Aber man macht sich doch so große Sorgen. Das ist mehr als verständlich. Und natürlich möchte man die arme Frau beruhigen, denn als empathischer Arzt sieht man, dass sie leidet. Es ist eine Zwickmühle. Ein Problem ohne klare Lösung. Verständlich auf jeder Seite, der des Hilfesuchenden und der des Freizeitsuchenden. Es ist also nicht nur eine Frage des Respektes der Privatsphäre, sondern viel mehr der persönlichen Ressourcen der einzelnen Beteiligten. Und diese muss man verteidigen, auch wenn es an diesem einen Samstag vielleicht heißt, Frau Müllers Sorgen stehen zu lassen.
Was muss ich tun? Was muss ich aushalten? Was muss ich akzeptieren? Wo sind die Grenzen? Und wie lässt man sie deutlich werden, ohne jemanden vor den Kopf zu stoßen? Wäre das nicht mal ein interessantes Fach für das Studium?

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Wer schreibt hier

Jule Pavlik
Familiär vorbelastete Medizinstudentin aus Marburg, an der Welt und den Menschen interessiert. Eigentlich bin ich aber ein echtes Landei.

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